Gibt es wirklich wichtigere Dinge im Leben, als Wasserfälle zu befahren? Da in Island die Sonne im Sommer nicht untergeht, fand Jens Klatt während seiner zweiwöchigen Rundreise genügend Zeit, diese Frage mit seinen Mitstreitern zu diskutieren.
Ohne Wenn und Aber: Wasserfälle haben etwas Magisches, nicht nur in Paddlerkreisen. Kaum ein seriöser Fantasyfilm kommt heute noch ohne Inszenierung eines Wasserfalls aus. Ob »Herr der Ringe« oder »Harry Potter«, immer verkörpern Wasserfälle Zentren überirdischer Macht. Und um jeden bekannten Wasserfall ranken sich wilde Mythen, seien es die Niagarafälle in Amerika, der Godafoss in Island oder die Iguazú-Wasserfälle zwischen Argentinien und Brasilien. Ob hoch oder klein, ob Rinnsal oder mit kräftiger Wassersäule, ob tief im Busch oder direkt neben der Straße – irgendeine Geschichte birgt jeder Wasserfall. So viel steht jedenfalls fest: Die Faszination Wasserfall gibt es nicht erst, seit es bunte PE-Boote gibt.
Andererseits gilt: Für Wildwasserpaddler ist die Befahrung eines Wasserfalles etwas ganz Besonderes. Natürlich kann man argumentieren, dass das bloße Hinabfallen eines Wasserfalles keinerlei paddeltechnischer Fähigkeiten bedarf – die Schwerkraft wird‘s schon richten – und dass eine saubere Linie in einem Katarakt wesentlich mehr Bootsgefühl verlangt – dennoch ist die Befahrung eines Wasserfalles der Höhepunkt eines jeden Paddelurlaubs. Warum? Nun, die Antwort ist leichter als man denkt: Es ist der Traum vom Fliegen!
Der amerikanische Wildwasserphilosoph Doug Ammons erklärt es folgendermaßen: »Wir Menschen sind eine sehr beschränkte Spezies: Wir können nicht besonders schnell laufen, wir können nicht gut schwimmen und wir können nicht fliegen. Aber wenn wir uns im Kajak vom Ufer abstoßen, kämpfen wir gegen unsere Schwächen und Ängste an. Wir dringen in neue Sphären, testen unsere Grenzen – keine andere Spezies auf unserem Planeten macht so etwas. Wir erlernen die Gesetze des Flusses, bewegen uns mit dem Wasser über Fels und Gestein. Und wir gehen noch weiter: Wir brechen die Gesetze der Schwerkraft, lösen uns vom Wasser und fliegen – indem wir Wasserfälle befahren. Ein Wildwasserkajak erinnert mich an einen fliegenden Teppich: Lerne ihn zu kontrollieren und er trägt dich hinfort.«
Die Freude am Egoismus
Zugegeben, es gibt keinerlei sinnvolle Gründe im Kajak Wasserfälle zu befahren. Blicken wir zurück auf unsere Urahnen, wird das abstruse Szenario schnell deutlich: Ausgelassen sitzt die Neandertaler-Familie um das Feuer herum, es ist Sonntagnachmittag. Die Kinder spielen mit den Wolfswelpen, Mutti sammelt Blätter zum Teekochen und hält Ausschau nach etwaigen Säbelzahntigern. Dann die Ansage des vormals so verdächtig stillen Vaters: »Schatz, ich gehe noch kurz paddeln. Ich habe einen Wasserfall entdeckt, der noch nicht befahren wurde. Ich bin spätestens zum Abendessen zurück.«
»Wir Menschen sind eine sehr beschränkte Spezies. Wir können nicht besonders schnell laufen, wir können nicht gut schwimmen. Aber wenn wir uns im Kajak vom Ufer abstoßen … «
Wasserfallfahren – und im Prinzip das Paddeln selbst – ist eine äußerst egoistische Betätigung. Keine sozialen Missstände werden dadurch behoben, man wird dadurch nicht zwingend zu einem besseren Menschen. Zuallererst machen Wasserfälle den Paddler glücklich. Die Anspannung davor, das breite Grinsen danach. Wasserfälle sind geil, daran besteht kein Zweifel. Klingt doof? Ja, irgendwie schon. Aber irgendwie stimmt es eben. Man kann das Gefühl nicht beschreiben, welches unseren Körper überwallt, wenn wir aus dem Pool hinaufschauen und uns denken: »Ja Mann, eben gerade war ich noch da oben!«
Aber vielleicht findet der Paddler am Fluss noch etwas, das er in seiner »realen« Welt vermisst. Doug Ammons, im wahren Leben hochdekorierter Psychologe, wirft in seinem Buch »Whitewater Philosophy« Folgendes in die Diskussionsrunde: »Würde unsere Gesellschaft wie eine Gruppe Wildwasserpaddler auf einem Fluss funktionieren, gäbe es keine Kriege und keine Diskriminierung mehr.« Hoch gegriffen? Eigentlich nicht. Er macht noch weiter: »An einem Wasserfall ?erwacht jeder Sinn, dein Bewusstsein ist geschärft. Der Fluss wird zu deinem Leben, dein Leben wird der Fluss. Du hörst auf dich und den Fluss und auf deine Freunde. Es gibt keinen Überfluss, keinen Schnickschnack. In dieser Welt breitest du dich aus und wirst eins mit diesem wunderschönen und gefährlichen Element. Für jede Entscheidung, die du triffst, spürst du die Konsequenz unmittelbar und ohne Umwege. Jedes Detail, jeder Paddelschlag, jedes Wort hat seine Geltung. Für diese Zeit wirst du zu einem besseren Menschen.«
Vor dem Fluss sind alle gleich
Wasserfälle bedeuten mehr. Man sitzt zwar allein im Boot, doch man ist nicht komplett solo. Mit den Menschen, die mit dem Wurfsack am Ufer stehen oder unten im Pool warten, teilt man etwas: nämlich genau diese Ernsthaftigkeit des Handelns, die Reduzierung auf das Wesentliche, die man im Leben abseits des Flusses oft vermisst. Es gibt keine Lügen, keine Bevorzugung, kein Mobbing und keine Missgunst; Maßlosigkeit, Hochmut und Ignoranz werden umgehend bestraft. Die Regeln sind klar und für jeden gleich. Simple Tugenden wie Vertrauen und Verlässlichkeit werden wichtig. Vor dem Fluss sind alle gleich.
»Beim Klettern kommt keiner rauf, der es nicht kann. Beim Wasserfallpaddeln sieht die Sache anders aus.«
Und man lernt vom Fluss: nämlich, dass Entschlossenheit, Zielstrebigkeit und Selbstvertrauen, gepaart mit einer gesunden Selbsteinschätzung zum Ziel führen. Matze Brustmann, Teilnehmer der Islandexpedition, hält fest: »Für mich ist jede Befahrung ein Erlebnis. Ich schätze den ?Moment an sich, und das, was mir persönlich in Erinnerung bleibt. Und zu guter Letzt klopft man sich ja auch ganz gern mal selbst auf die ?Schulter. Das wirkt sich positiv auf des Paddlers Gleichgewicht aus.«
Wasserfallpiloten gelten als überzogen, überwichtig und überflüssig. Adrenalinjunkies, die nicht nachdenken. Lernt man Matze Brustmann persönlich kennen, wird man schnell vom Gegenteil überzeugt: Matze ist die Ruhe in Person, philosophiert in Songtexten über »den Weg zur Sonne«, summt aus heiterem Himmel seinem Hirn entspringende ?Melodien und speist gern, gut und gemütlich. Sitzt Matze allerdings im Boot, ist es mit der Gemütlichkeit und Träumerei vorbei: Matze scheint nie eine Linie zu verfehlen, eine Walze zu unterschätzen, einen Schlag nicht zu treffen – er ist voll fokussiert. Er liebt es, sich mit dem Element Wasser zu messen. Hört man ihn von seinen Befahrungen reden, sind Untertreibungen an der Tagesordnung. Die Selbstverständlichkeit seines Handelns und seine Überzeugtheit können einem Angst machen. Angst, Matze könne keine Angst verspüren.
Alles Verrückte und Spinner
»Wasserfallfahren ist nicht einfach. Wasserfallfahren lernt man nur beim Wasserfallfahren – es gibt kein Netz, keinen doppelten Boden. So ist es schwer, sein Können weiterzuentwickeln«, weiß auch Olaf Obsommer, zusammen mit Bernie Mauracher der Vater der Idee zur Islandtour.
Dennoch ist die Befahrung eines Wasserfalles keine unüberlegte Angelegenheit von Verrückten, sondern ein langjähriger Prozess. Wenn man mit Paddeln beginnt, ist man vor der ersten Eskimorolle aufgeregt wie vor dem ersten Kuss. Irgendwann beherrscht man die Rolle. Links, rechts, vorwärts, rückwärts, mit und ohne Paddel. Rollen wird langweilig. Dann lernt man Kehrwasserfahren. Links, rechts, rein, raus – irgendwann wird’s langweilig. Man fährt die erste Stromschnelle und platzt vor Aufregung. Irgendwann will man wieder mehr. Man surft Wellen, kleine und große, paddelt über Stufen, kleine und große – und irgendwann, ja irgendwann träumt man vom ersten Wasserfall.
Es liegt in der Natur des Menschen sich weiterzuentwickeln – sonst würde sich der Homo sapiens auch heute noch in Höhlen herumtreiben und Angst vor Feuer haben. Natürlich bedarf es vieler kleiner Schritte, um sich vom Novizen zum Wasserfallpaddler zu entwickeln. Doch wer diese Schritte geduldig geht, kommt auch ans Ziel.
Trotzdem sind Wasserfallbefahrungen in Verruf geraten. Ist es die Jagd nach Höhenrekorden, die überflüssig wirkt? Schon ein altes Sprichwort bringt die Wahrheit ans Licht: »Runter kommen sie alle!« Denn im Gegensatz zum Klettern kann sich jeder in ein Boot setzen und runterplumpsen – eine überhängende Wand hingegen kommt man nicht so einfach hinauf. »Da man beim Paddeln selbst mit wenig Können Wasserfälle befahren kann und oft ungeschoren davonkommt, ist es um so schwieriger, große Leistungen zu erkennen und die eigenen Leistungen richtig einzuschätzen«, meint Matze Brustmann. ?»Tyler Bradt hat mit seinem 56-Meter-Weltrekord an den Palouse Falls eine absolut kontrollierte Befahrung hingelegt, bei der ihm seine jahrelange Erfahrung im Meistern von Wasserfällen jenseits der 20-Meter-Marke zugutekam. Es könnte aber fast jeder mit dem nötigen Mut da runterfahren.« Was also trennt Genie und Wahnsinn?
Kontrollierte Befahrung?
Wasserfälle sind leicht verständlich, auch Außenstehende sind schnell beeindruckt: je höher, desto spektakulärer und schwieriger. Nein, meint Olaf Obsommer: »Die Königsdisziplin im Wildwasser bleibt das Wuchtwasser. Wasserfälle erlangen ihre Beachtung durch ihre optisch beeindruckende Erscheinung. Ein großer Katarakt mit viel Wasser und hohem Gefälle ist ungleich schwieriger zu paddeln und verlangt viel komplexere Fähigkeiten. Trotzdem hat sich einiges getan an der Wasserfallfront! Früher befuhr man Wasserfälle im sogenannten T-Stil, eine Haltung, bei der man von vornherein die Kontrolle über das Boot aufgab. Mit dieser Technik hätte sich Tyler Bradt bei seinem Rekord wahrscheinlich schwerste Verletzungen zugezogen. Heute wird der Körper nach vorne eingerollt. In der Position kann die Flugbahn noch beeinflusst werden und der Körper ist kompakt genug, um den Einschlag wegzustecken, und nicht offen wie ein Klappmesser.«
Die Islandneulinge Florian Dillier und Lars Dippon wissen, dass dies nicht die einzigen Zutaten sind: »Das Schwierigste ist die Anfahrt. Die richtige Geschwindigkeit, mit der man sich der Kante nähert, der Winkel beim Absprung – alles muss auf die Abrisskante, die Fallhöhe und die Wassermenge abgestimmt sein. Wenn eine Komponente nicht stimmt, kann die Körperhaltung während des Fluges auch nichts mehr retten.«
Kurzum: Die meisten Paddler, die sich im Grenzbereich bewegen, blicken auf eine lange Erfahrung zurück und haben gelernt, Gefahren einzuschätzen und zu kalkulieren – sie haben sich auf ihrem langen Weg Fähigkeiten angeeignet, die andere Paddler nicht haben. Vergleicht man Extrem-Kajakfahren mit Extrem-Bergsteigen, wird einem schnell klar, dass die wahren Verrückten die sind, die auf Bergspitzen klettern. Hier ist man nämlich nicht nur den beinflussbaren eigenen Fähigkeiten ausgeliefert, sondern obendrein auch Steinschlag und dem Wettergott.
Der Schmerz geht, der Ruhm bleibt?
Basis des Erfolgs ist die Wahl des richtigen Wasserfalls. Fällt das Wasser abrupt über die Abrisskante oder bildet es eine Rampe, die den Winkel vorgibt? Wie sehr wird die Landezone vom herabfallenden Wasser aufgewirbelt und dadurch weicher? Tyler Bradt hatte sich für seinen Rekord einen perfekten Wasserfall ausgesucht und damit optimale Umstände geschaffen, um seine Grenzen auszutesten.
Gerüchten zufolge soll Tyler vor seiner Befahrung der Palouse Falls an einer amerikanischen Universität Berechnungen in Auftrag gegeben haben, die die Belastungsfähigkeit des menschlichen Körpers im Zusammenhang mit Wasserdruck und Fallhöhe definieren sollten: 60 Meter, wurde verkündet. Der Neuseeländer Sam Sutton sieht es pragmatischer: »Hohe Wasserfälle unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt von kleinen Wasserfällen – der Einschlag tut mehr weh.« Sams schon mehrfach gebrochene Nase kann davon ein Lied singen. Und das alles für ein bisschen Ruhm und Ehre?
Für den Schweizer Lukas Wielatt steht fest: »Ich riskiere meine Gesundheit nicht für ein paar Sekunden Filmaufnahmen oder ein paar Fotos – auch wenn wir im Zeitalter von künstlichen Bandscheiben leben. Wenn ich einen Wasserfall befahre, dann allein für mich.« Auch der österreichische Vielflieger Bernie Mauracher hat mittlerweile gelernt, Nein zu sagen: »Früher wollte ich alles befahren, was mir befahrbar erschien. Nur für mich, für meinen inneren Schweinehund. In Island habe ich auch Sachen umtragen, die ich eigentlich hätte fahren können – einfach, weil mir nicht danach war.«
Philip Baues bestätigt: »Man macht einen kleinen Fehler und schon wünscht man sich, Mutter Natur hätte den Menschen mit mehr Federweg ausgestattet. Da sich der Körper aber nun mal nicht so einfach tunen lässt wie ein Golf GTI, sollte sich jeder Vielflieger genau überlegen, welche Belastungen er seinem Körper zumuten möchte.«
Sinn und Unsinn
So richtig abstrus wird eine Wasserfallbefahrung, wenn man wie Doug Ammons weiterdenkt: »Die Niagarafälle wurden schon in Holzfässern überlebt, 30-Meter-Wasserfälle mit simplen Schwimmreifen bezwungen. Warum betonen Paddler dann immer ihre Wasserfalltechniken, wenn diese scheinbar gar nicht vonnöten sind?« Interessanter Einwand. Für Kiwi Jared Meehan steht fest: »Es geht eben um die Ästhetik! Es geht nicht um die Frage, ob man hinunterfährt, sondern wie.« Philip Baues stimmt zu: »Wenn man nämlich nicht gerade der Terminator ist, will man wohl kaum mit dem Gesicht voraus im Wasser einschlagen, auch nicht bei kleineren Wasserfällen. Es gilt, sich vom Fallen zu verabschieden und sich mit einer kontrollierten Befahrung auseinanderzusetzen.« Allein Matze Brustmann sieht es wie immer positiv: »Auch eine misslungene Befahrung kann erfolgreich sein. Allein die Einsicht, Fehler gemacht zu haben, kann man ja als Erfolg werten.«
Wie und wodurch man schließlich seine Befriedigung erreicht, ist jedem selbst überlassen. Ob beim Befahren von Wasserfällen, beim Häkelkurs an der Volkshochschule oder beim Mitfiebern mit Germany‘s Next Topmodels. Doch wenn selbst der größte Wasserfallkritiker jetzt mal jeglichen Missmut für einen Moment ausblendet, mal die Augen schließt, sich vorstellt, federleicht zu sein und mit ein paar Flügelschlägen gen Himmel zu streben – würde er da noch am Boden sitzen bleiben wollen? So ähnlich ist es mit Wasserfällen. Wenn man die Möglichkeiten hat, dann will man zumindest für kurze Zeit schwerelos sein und alles andere für einen Moment vergessen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Amen.