Ja klar, so etwas wie »River Culture« gebe es auch in Europa. Sagt Ralf Schaberg. Und der muss es wissen, schließlich ist er seit vielen Jahren auf den Wildflüssen dieser Welt unterwegs. Doch in Kanada, und vor allem im Madawaska Kanu Centre, seien diese »positiven Vibes« irgendwie intensiver. Gern erinnert er sich daran, wie ihn Stefi van Wijk, eine der beiden MKC-Leiterinnen, bei seiner ersten Ankunft in der Paddelschule mit dem Ruf »Welcome home, Ralf« und einer herzlichen Umarmung begrüßte – als würden sie sich schon ewig kennen, und nicht nur durch ein, zwei Videocalls.
In der Saison 2024 war Ralf Schaberg im dritten Jahr in Folge im Madawaska Kanu Centre – nicht mehr als Gast, sondern als Instructor bei den dortigen Wildwasserkursen. Für diesen Zweck bringt er aus seiner Karriere im Kanu-Leistungssport weit mehr mit als »nur« das nötige Know how: Mit 17 Jahren holte er im Kajakslalom der Junioren den Vizeweltmeister-Titel, landete mit der Mannschaft auf dem dritten Platz. Ein Jahr später wurde er mit seinem Team Junioren-Europameister, dann ließ er die Junioren-Zeit hinter sich – um 1998 mit dem Slalom-Nationalteam Europameister, ein Jahr darauf Weltmeister zu werden.
Der Wettbewerbs-Gedanke spielt für ihn im Madawaska Kanu Centre aber keine Rolle. »Hier geht es mehr darum, Fähigkeiten aus dem Leistungssport auf den Breitensport zu übertragen – und so bei den Kursteilnehmern den Spaß am Paddeln zu steigern«, sagt er. Das scheint zu gelingen: Die Wiederholer-Quote ist groß, die Leidenschaft bei den Schülern auch, manche Rafting-Gastfamilien kommen schon in der dritten Generation. Kein Problem – das Madawaska Kanu Centre ist über ein halbes Jahrhundert alt.
Die Anfänge
Die Geschichte von Kanadas erster Wildwasserschule reicht zurück bis in die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Damals wanderten Christa und Hermann Kerckhoff aus Hamburg nach Kanada aus, im Kopf den Traum, in der kanadischen Wildnis eine Existenz zu gründen. Was sie in Ontario vorfanden, war eine dünn besiedelte, hügelige Landschaft aus Hartholzwäldern und Seen, Sümpfen und Grundgestein, das hier und dort aus dem Boden ragt. Außerdem mit Weltklasse-Flüssen. Nur leider ohne Boote drauf. Also beschlossen die beiden erfahrenen Kanuten, eine Paddelschule zu gründen, in der sowohl Anfänger als auch erfahrene Paddler die Grundlagen lernen oder ihre Fähigkeiten verfeinern konnten. Nach jahrelanger Suche nach dem perfekten Standort entschieden sie sich 1969 für einen kleinen Abschnitt des Madawaska-Flusses, um die erste Wildwasserschule des Landes zu eröffnen, dazu ein gemütliches Chalet im Schweizer Stil, gelegen in einem Ahornwald über dem Fluss.
Die Ortswahl erwies sich als goldrichtig. Der mittlere Madawaska bildet einen kompakten, dynamischen Wildwasser-Abschnitt, in dem es in einem Umkreis von fünf Kilometern bis zu Stromschnellen der Klasse III so ziemlich alles gibt. Die meisten davon enden in ruhigen, tiefen Tümpeln, aber die nächste Rapid ist nie weit entfernt. Ein idyllischer Fluss, geprägt von schneller Strömung und ruhigen Wirbeln, die in der Sommersonne funkeln. Gefüllt mit sauberem Wasser, das durch natürliche Tannine leicht gefärbt ist, was ihm einen dunklen Bernstein-Farbton verleiht. Ein bisschen wie Eistee oder Whisky. Und, wichtig für eine Kanuschule: Der Madawaska eignet sich bestens als »Lehrfluss«, als nasses Klassenzimmer. »Der Fluss ermöglicht eine allmähliche Steigerung, hat viele offene Rapids«, sagt Ralf Schaberg: »Top für die Arbeit als Lehrer.« Und wenn doch mal ein Schüler unfreiwillig schwimmen geht, dann könne man ihn so gut wie überall problemlos bergen. Keine Selbstverständlichkeit für einen Wildwasserfluss – ebenso wie die sommerlichen Wassertemperaturen zwischen 22 und 25 Grad Celsius.
Können und Spaß
In den Jahren nach der Gründung luden die Kerckhoffs Weltmeister und Olympiasieger aus Europa ein, um ein Trainingsprogramm zu entwerfen. Der Unterricht hatte – und hat bis heute – zwei Ziele: erstens den Schülern die grundlegenden Fähigkeiten im Wildwasser zu vermitteln – und sollten sie die schon mitbringen, dann eben mehr als das. Zweites Ziel: Den Schülern soviel Spaß bereiten, dass sie dem Paddelsport im Optimalfall ein Leben lang treu bleiben. Vorbild war das europäische Skischul-Modell, das die Kerckhoffs in ihrer Studentenzeit beim Skifahren in den deutschen Alpen kennengelernt hatten. Dabei wurden die Teilnehmer je nach Können in verschiedene Gruppen eingeteilt und dann von einem professionellen Lehrer unterrichtet. So funktioniert das auch beim Madawaska Kanu Centre, wobei die Schüler hier zusätzlich nach der Wahl des fahrbaren Untersatzes eingeteilt werden: Kajak oder Canadier.
Kontrollierter Wasserstand
Mit der Gründung der ersten Wildwasserschule Kanadas erwiesen sich die Kerckhoffs als Visionäre. Und das taten sie auch, als es darum ging, das Problem der niedrigen Wasserstände im Sommer zu lösen. Ein ordentlicher Hemmschuh für eine Kanuschule, denn in Ontario trocknen die Flüsse bis August allmählich aus und verwandeln sich in ruhige Felsgärten – ein ziemlich ungeeignetes Revier, um zu lernen, wie man rollt. Die Kerckhoffs fanden eine Lösung, in der Form eines bei Paddlern normalerweise unbeliebten Bauwerks – eines Staudamms. Infrastruktur zur Stromerzeugung gibt es am Madawaska schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts, als der Holzhandel sich allmählich modernisierte und auf schienengebundenen Transport verlagerte. Der Bark Lake, zweitgrößtes Wasserreservoir im Osten Ontarios, speist auch den mittleren Teil des Madawaska. In der Vergangenheit gaben die Betreiber der Staudämme je nach den Anforderungen des Stromnetzes Wasser frei oder hielten den Durchfluss zurück. Die Bedürfnisse der Wassersportler flussabwärts? Interessierten keinen Menschen. Christa und Hermann änderten das, indem sie bei den Betreibern Lobbyarbeit betrieben, um den Durchfluss auf geplante Intervalle zu konzentrieren. So konnten die Paddler tagsüber in den Stromschnellen spielen, und die Pegel konnten in der Nacht wieder sinken, um den Stausee wieder aufzufüllen.
Die Vereinbarung, welche die Kerckhoffs in Zusammenarbeit mit dem Umweltministerium und lokalen Energieversorgern getroffen haben, ist bekannt als der »Madawaska River Management Plan«, ein seltenes Beispiel für die Zusammenarbeit von Regierungsbehörden, lokalen Unternehmen und Freizeitsport. Für Paddler auf dem mittleren Madawaska bedeutet der Bewirtschaftungsplan einen zuverlässigen Flusslauf von Mai bis September, von Montag bis Donnerstag, von 9 bis 16 Uhr. Wie ein Uhrwerk erwachen die Stromschnellen jeden Morgen zum Leben und lösen sich am späten Nachmittag langsam in kleine, plätschernde Schwälle auf. Und weil der Damm am Bark Lake von oben gespeist wird, wird das Wasser, das durch die Stromschnellen flussabwärts fließt, von der Sonne erwärmt – ein in Kanada einzigartiger Vorteil.
Die Wildwasser-Wochen
Ein Herzstück des MKC-Programms bilden heutzutage die Wildwasser-Wochen. Diese Kurse finden den ganzen Sommer über statt, bis Ende August, jede Woche von Montag bis Freitag. Sie richten sich an Paddler aller Könnensstufen, vom Anfänger bis zum Fortgeschrittenen. Man kann sie als Kajak- oder Canadierfahrer absolvieren, wobei letztere ihre Lektionen im Madawaska Kanu Centre häufig als Vorbereitung für längere Expeditionen nutzen. »Die ersten vier Tage finden auf dem Madawaska River statt, am fünften Tag geht es dann auf einen anderen Abschnitt oder auf den Ottawa River«, erklärt Ralf Schaberg. Das Paket enthält fünf Paddeltage, die Unterrichtung durch erfahrene Instruktoren, Boot- und Ausrüstungsverleih, alle Mahlzeiten und zwei Nächte in der forest cabana, dem Glamping-Zelt oder dem lodge room (zu den Unterkunffts-Möglichkeiten siehe Infoteil).
Seit 2023 arbeitet das Madawaska Kanu Centre mit dem deutschen Hersteller Lettmann zusammen und ist somit »North America’s Eastern Lettmann kayak centre«. Das wiederum hat die Leihboot-Palette um die Lettmann-Modelle Rocky und Manta ergänzt, und dazu soll laut Ralf Schaberg noch die eine oder andere Machete kommen, um das Half slice-Angebot aufzustocken.
In der »Ruhmeshalle«
Die MKC-Gründer Christa und Hermann Kerckhoff gelten heute in Kanada als Pioniere des Kanusports. Beide haben in ihrer Wildwasserkarriere beachtliche Erfolge eingefahren. Der Höhepunkt von Hermanns Karriere war die Teilnahme an den Olympischen Spielen 1972 in München, als Mitglied der kanadischen Slalom-Mannschaft. 2019 wurden die beiden in die International Whitewater Hall of Fame (IWHOF) aufgenommen, einem Programm der American Canoe Association, das herausragende Persönlichkeiten des Kanusportes würdigt.
Die nachfolgenden Kerckhoff-Generationen führen dieses Erbe fort. Sie sind dem Paddelsport und dem Madawaska Kanu Centre treu geblieben. Ebenso wie Ralf Schaberg, der 2024 schon im dritten Jahr seinen Schülern in Ontario die Finessen der Bootsbeherrschung beigebracht hat, wie man das »Wasser liest« und sicher durch die Rapids kommt. Dabei habe er seinerzeit für diese Entscheidung lange gebraucht, erzählt der Grafiker und Vater von drei Kindern. Ein Kumpel, ebenfalls Slalom-Kajaker, habe ihm einst vom Madawaska Kanu Centre erzählt und auf Nachfrage geantwortet: »Schwer zu beschreiben. Da musst Du selber hin!«. Dieser Satz, erinnert sich Ralf, musste 15 Jahre lang in ihm reifen. Dann habe er sein Angebot gemacht. Und dann wurde er am Madawaska River begrüßt: »Welcome home, Ralf!«
Familienbetrieb in der dritten Generation
Über ein halbes Jahrhundert nach ihrer Gründung ist die kleine Schule mitten im Wald zum Epizentrum der örtlichen Wildwassergemeinde geworden. Der Slalomkurs in den »Chalet Rapids« war schon Schauplatz unzähliger nationaler und internationaler Wettbewerbe, und er ist nach wie vor ein Trainingsplatz für Olympia-Hoffnungen aus der ganzen Welt. Kanu- und Kajakfahrer kommen von weit her, um auf dem Madawaska zu lehren und zu lernen. Und weil das Gelingen eines Urlaubs nicht nur von den Stunden auf dem Fluss abhängt, bildet das Madawaska Kanu Centre einen Ort urwüchsiger Gemütlichkeit, einen Ort des Wohlbefindens und der Geselligkeit. Über den Tischen im Speisesaal hängen ein Kanu aus Birkenrinde und ein Klepper-Faltboot, außerdem das olympische Goldmedaillengewinner-Kajak, in dem Dana Chladek bei den Sommerspielen 1996 im Slalom zum Sieg paddelte, ein Meilenstein in der Geschichte des Madawaska Kanu Centre. 1982 übernahmen Claudia Kerckhoff, älteste Tochter des Gründer-Ehepaars und ebenfalls im internationalen Paddel-Leistungssport erfolgreich, und ihr Mann Dirk van Wijk die Leitung der Schule. Unter ihrer Führung hat sich das MKC durch die Erweiterung der Saison und die Aufnahme von Wochenendkursen vervierfacht, aber die Kernwerte blieben die gleichen, ebenso wie die Art des Lernens am und vom Fluss. Im Jahr 2018 übernahm dann die dritte Generation das Ruder: Stefi und Katrina, die beide ebenso viel Herzblut in das Betreiben der Wildwasserschule und die Betreuung der Gäste legen wie ihre Vorgänger. Auch diese beiden sind, wie könnte es anders sein, passionierte und erfolgreiche Paddler.
Reiseinfo: Madawaska River
Der Madawaska beginnt im Algonquin-Park und verläuft über 230 Kilometer in südöstlicher Richtung bis zu seinem späteren Zusammenfluss mit dem Ottawa River. Es gibt drei bemerkenswerte Wildwasser-Abschnitte (den oberen, den mittleren und den unteren Madawaska), wobei sich der mittlere Abschnitt mit seinem Straßenzugang und den vom Staudamm gesteuerten Freisetzungen als der beliebteste erwiesen hat.
Kursangebot: Das Programm ist aufgebaut in Fünf-Tages-Kurse (Montag bis Freitag, die sogenannten Wildwasserwochen) und Zwei-Tages-Kurse (Samstag und Sonntag). Dazu kommen Specials wie Family Weeks, Senior Weeks, Week of Rivers (mehrere unterschiedliche Flüsse, je nach Wasserstand, werden mit Guiding befahren), Yoga Weeks (Kombi aus Paddeln und Yoga) sowie das Whitewater Riders Programm für Teenager. Detaillierte Infos: www.mkc.ca/whitewater-kayak-and-canoe-courses/
Unterkunft: Auch bei den Unterkünften hat man im MKC reichlich Auswahl – es gibt Doppelzimmer und Zimmer mit bis zu sechs Betten in der Lodge, die im Wald gelegenen Cabanas, komfortable Glamping-Zelte sowie Zeltplätze, die man mit und ohne Mahlzeiten buchen kann.
Preise: Der Basispreis für die Wildwasser-Woche beträgt 1075,- Dollar. Dazu kommen Unterkunft und Verpflegung (200,- bis 925,- Dollar) sowie der Ausrüstungsverleih für 425,- bis 475,- Dollar (Boot, Paddel, Helm und Schwimmweste).
Anreise: Flug nach Toronto oder Ottawa. Shuttle zum Madawaska vorab mit dem MKC klären. Achtung bei einem potentiellen Umsteige-Stopp in den USA: Dafür braucht man sogar als bloßer Transitpassagier eine ESTA-Einreisegenehmigung.
Infos und Buchung: www.mkc.ca