Vielleicht wäre im Leben von Anton Prijon sen. alles ganz anders verlaufen, wenn er in den 50er Jahren nicht in einem jugoslawischen Militärgefängnis inhaftiert worden wäre. Anton Prijon wurde zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, davon zwölf Monate Einzelhaft in einer unmenschlich kleinen Zelle. Dabei peilte Anton Prijon eigentlich eine Offizierslaufbahn in der jugoslawischen Volksarmee an. Eine Karriere bei den kommunistischen Streitkräften war mit seiner Inhaftierung undenkbar geworden, ansonsten hätte es Anton Prijon, den Bootsbauer, wohl nie gegeben. Kaum vorstellbar, dass Paddler in den Genuss von Prijon-Kajaks gekommen wären, wenn Anton Prijon kurze Zeit später, in einem Auswanderungslager im süditalienischen Neapel, nicht von einem Freund um sein Erspartes betrogen worden wäre. Dann wäre Toni – so wurde er zeitlebens von Freunden und Paddlern genannt – kanadischer Staatsbürger geworden und hätte womöglich nie eine Kajakfirma von Weltruf gegründet. Wer weiß? Toni Prijons Lebenslauf war turbulent und windungsreich, aber dennoch zielstrebig. Wie ein Fluss, der Hindernisse überwindet, sich durch dunkle Schluchten zwängt, dabei unaufhaltsam seiner Mündung entgegen strömt. Wie die Soča, Tonis Heimatfluss. Der Strom seines Lebens.
Toni Prijons Lebensgeschichte liest sich wie ein historischer Auswanderer-Roman, an dessen Ende ein ehedem mittelloser Handwerker sein Glück gefunden hat – aber sie ist wahre Geschichte. Sie erzählt von Entbehrung, Neuanfang, Erfolgen und der späten Rückkehr zu seinen Wurzeln. Es ist eine schöne Geschichte und sie beginnt 1929 im italienischen Gorizia, an den Ufern der Soča. Toni Prijons slowenische Familie lebte schon seit Generationen in der Primorska, im Küstenland, einer von der Natur verwöhnte Region. Olivenhaine, Obstgärten und Weinberge bestimmen die Landschaft. Warme, mediterrane Einflüsse treffen hier auf raues Alpenklima. Anton Prijon wird am 23. Juni 1929, als drittes Kind des Schreinermeisters Anton und seiner Frau Aloisia, in Gorizia geboren, und wächst im nahen Örtchen Solkan auf. Das klingt beschaulich, aber es sind bewegte Zeiten. Ein Jahrzehnt zuvor war sein Geburtsort noch auf österreichischem Territorium, dann folgte der 1. Weltkrieg. Sein Heimatdorf Solkan wurde während der Isonzo-Schlachten nahezu vollständig zerstört und fiel danach in italienische Hände. In seiner Jugend lernt Toni das Schreinerhandwerk, sein Vater war Sargschreiner. Der junge Toni nutzt seine Fertigkeiten für andere Zwecke. Er ist Mitglied im heimischen Kanuclub, zimmert nach der Arbeit Kajaks aus Holz und trainiert auf der Soča. Keine 100 Meter von seinem ehemaligen Elternhaus entfernt, auf der Soča, gibt es heute immer noch eine Kanuslalomstrecke von internationalem Format.
Krieg …
Der Zweite Weltkrieg beendet eine kurze Zeit des Friedens, Toni steht seinen Mann als Munitionsträger bei den Partisanen. Die Primorska wird nach 1945 amerikanische Besatzungszone. Ein US-Offizier organisiert regelmäßigen Sport für die Jungen im Dorf und versucht, Kinder von den ehemaligen Schlachtfeldern zu locken. Dort hat auch Toni Freunde verloren, die mit alten Gewehren und Handgranaten spielten und dabei ihr junges Leben lassen mussten. Toni trainiert fleißig Kajak und entwickelt großen Ehrgeiz. Gleichzeitig versucht er seine Holzkajaks mit handwerklichem Geschick zu verfeinern. In der neu gegründeten Volksrepublik Jugoslawien arbeitet Toni weiter als Schreiner, macht seinen Meisterschein. Darüber hinaus zählt er zu den Leistungsträgern des jugoslawischen Kanuteams, und Solkan wird zu einem Kanuzentrum im jungen, kommunistischen Staat. In jenen Jahren ist Toni Prijon glühender Verfechter der kommunistischen Ideen seines Heimatstaates. In der Hauptstadt Belgrad strebt er Mitte der 50er Jahre eine Militärkarriere an. Diese ist schneller vorbei als erhofft. Ein desertierter Freund denunziert Toni zu Unrecht. Der Versuch einer Umerziehung während der Haft scheitert kläglich. Kaum entlassen, schnappt sich Toni das erstbeste Fahrrad und radelt zur italienischen Grenze. In Jugoslawien gibt es für den freidenkenden Sportsmann und Handwerker keine Zukunft mehr. Nachts schwimmt er durch die Soča, lässt Familie und Heimat hinter sich und flieht nach Italien.
Mühsam kämpft sich Toni nach Süditalien, bis in ein Auswanderungslager in Neapel. Seine Hoffnungen sind groß: Er möchte nach Kanada auswandern, ein neues Leben beginnen. Aber er begeht einen schwerwiegenden Fehler. Toni vertraut seine Ersparnisse einem Freund an, der mit seinem Geld klammheimlich verschwindet. Die Passagierdampfer verlassen den neapolitanischen Hafen ohne Toni Prijon. Ein weiterer Traum platzt! Toni zieht es in den Norden Italiens, nach Südtirol, zu den Flüssen der Alpen. In Meran findet er eine Anstellung in einer Schreinerei. Sein Chef, Willi Gerstgrasser Senior, ist ebenfalls Kajak-Rennsportler, Toni kennt ihn von früheren Rennen auf Passer, Rienz und Eisack. Neben viel Arbeit an Möbelstücken stecken die beiden viel Zeit und Energie in eigene Holzpaddel und selbst entwickelte Kajaks – damals noch Faltboote, die in mühsamer Handarbeit gefertigt werden mussten. Viele Ideen stammen von Toni Prijon. Als Sportler und Handwerker in Personalunion hat er eine genaue Vorstellung davon, wie seine Sportgeräte aussehen müssen. Das Ziel ist ein gleichermaßen leichtes wie leistungsfähiges Rennkajak. Toni und Willi tüfteln unzählige Stunden, bis sie ein Hybrid-Faltkajak aus Holz, Aluminiumbeschlägen und Gummihaut erschaffen. Gewöhnliche Faltboote wiegen damals um die 25 Kilo, Prijons Rennmaschine nur 13 Kilogramm! Der Clou ist eine verstellbare Verstrebung, mit der Toni und Willi das Kajak an die jeweilige Disziplin Kanuslalom und Abfahrtsboot anpassen können. Gleich mit den ersten Prototypen fahren die zwei zahlreiche Siege ein. Prijon ist gerade mal 26 Jahre alt und beweist schon ein enormes Gespür für außergewöhnliche Designs. Das Boot revolutioniert den Kanusport, und Toni öffnet es die Türen zu den heiligen Hallen des Faltbootbaus. 1957 bekommt er eine Anstellung bei den Klepperwerken. Toni soll in der legendären Rosenheimer Kajakwerft bei der Entwicklung des Bootsbaus mitarbeiten.
… und Frieden.
Diese Chance kann Toni nicht ausschlagen. Das oberbayerische Klepperwerk ist damals das Epizentrum des modernen Kajaksports: Weltmarktführer und ältester Hersteller von Faltkajaks. Klepper beschäftigt mehr als 1000 Mitarbeiter, zu Tonis Arbeitskollegen zählen unter anderem Schneidermeister Walter Langer, der später unter eigenem Namen Spritzdecken, Schwimmwesten und Neoprenanzüge entwickelt, oder auch Karl Brenner und Franz Wimmer, die in wenigen Jahren mit ihren Brewi-Kajaks für Furore sorgen sollen. Toni Prijon widmet sich in jener Zeit neben seiner Arbeit voll dem Kanusport. Er trainiert beim Rosenheimer Kajak Klub, wird 1958 mit einem selbstgebauten Faltboot Deutscher Meister. Das Rennen auf der Ammer gewinnt er mit beträchtlichen zwei Minuten Vorsprung vor der Konkurrenz. 1959 folgt sein größter sportlicher Triumph: Auf der Vézère in Frankreich krönt er seine Saison mit dem Weltmeistertitel in der Kanuabfahrt, es ist die letzte Faltboot-WM. Der Kanusport steht vor einem großen Umbruch. Bei Klepper experimentiert Toni bereits mit glasfaserverstärktem Kunststoff. Die neuen Boote haben erhebliche Vorteile: Sie sind steifer, leichter und schneller. Toni Prijon erkennt die Zeichen der Zeit und setzt voll auf das neue Material. Der Wettkampfsport bestimmt nach wie vor sein Leben. Während eines Rennens auf der Tiroler Ache lernt Toni seine zukünftige Frau Lotte kennen. Sein Schwiegervater, Ambros Kaiser, ist Kieswerksbesitzer und unterstützt Tonis sportliche Karriere mit seinen eigenen Mitteln. Zu den Rennen fahren Toni und seine Klubkameraden ab sofort mit Kieslastern von Kaiser-Kies, die Rennboote gut verstaut auf der Ladefläche.
Neue Fronten
1961 melden Lotte und Toni Prijon ihr eigenes Geschäft an, eine kleine Werkstatt neben dem Betriebsgelände des Schwiegervaters. Der Anfang ist hart: »Ein Jahr brauchte ich, bis ich mir die erste Hobelbank zusammengespart hatte. In der Zeit gab es nur Spagetthi und Ölsardinen.« In den ersten Jahren verkauft Toni seine Holzpaddel an Wochenenden im Direktvertrieb bei seinen Wildwasserrennen. Seine Paddel sind begehrte Objekte. Dafür arbeitet er hart, bis zu 15 Stunden am Tag. Nachts trainiert er auf dem Rosenheimer Mangfall-Kanal, der zum Glück von Straßenlaternen beleuchtet wird. Handwerk und Rennsport, die Jagd nach schnelleren Zeiten, haben Toni immer zu Perfektion getrieben, das spürte auch jeder Paddler, der damals ein Prijon-Paddel in den Händen halten durfte. Die Nachfrage nach seinen Erfolgspaddeln übersteigt Tonis Produktion bei Weitem, Sportler müssen lange auf die Sportgeräte warten. Toni stellt zwei Arbeiter ein, aber die Firma wächst schnell. Weitere zwei Schreiner und vier Laminierer kommen in die Werkstatt, als er damit beginnt, eigene Slalom- und Abfahrtsboote aus GfK zu bauen. Die neue Bootsbau-Technologie mit Glasfasermatten und Polyesterharz spielt Toni voll in die Hände. Sie gibt ihm die Möglichkeiten, neue Ideen zu verwirklichen, die bei Faltkajaks unmöglich waren. Toni arbeitet akribisch an neuen Formen, an fortschrittlichen Modellen. Seine Hände sind sein wichtigstes Werkzeug, mit ihnen gestaltet er seine Erfindungen. Toni hat ein ganz besonderes Verhältnis zu seinen Schöpfungen: »Ein Boot zu bauen, ist eine schöne Arbeit. Für die Mutter hat das eigene Kind etwas besonderes, etwas, was ein anderer nicht spürt und sieht. So ähnlich geht es mir mit meinem Booten.« Tonis erstes GfK-Abfahrtsboot, der Prijon Phantom, ist nahezu konkurrenzlos, fährt auf vielen Rennen an die Spitze und begründet den guten Ruf der Prijon-Kajaks. 1970 beendet Toni Prijon seine aktive Rennsportkarriere, aber als ehemaliger Leistungssportler möchte er immer noch die besten Sportgeräte bauen – sehr zur Freude der Athleten. Viele Jahrzehnte dominieren Prijons Slalom- und Abfahrtsboote die Wettkämpfe. Zwischen 1991 und 2000 wurden im Wildwasserrennsport alle Weltmeistertitel im Einer-Kajak der Herren mit einem Prijon-Kajak gewonnen. Im selben Zeitraum werden Pierpaolo Ferrazzi, Elisabeth Micheler, Oliver Fix und Thomas Schmidt in Prijon-Slalombooten Olympiasieger. Was nur wenige wissen: Sogar bei der Premiere des olympischen Kanuslaloms, 1972 in Augsburg, sitzt der Goldmedaillengewinner, DDR-Sportler Siegbert Horn, in einem Prijon-Kajak. Die Funktionäre der DDR wissen genau, wo es die besten Kajaks gibt – ein Jahr vor den Olympischen Spielen war eine Abordnung nach Rosenheim gekommen und hatte das DDR-Team mit Prijon-Kajaks versorgt.
Wachstum in die Breite
Bis in die 80er Jahre baut Prijon vorwiegend Rennbote, aber gleichzeitig entwickelt er allmählich Touren- und Wildwasserkajaks für den Breitensport. Auf der einen Seite ist es eine rein wirtschaftliche Entscheidung, weil es immer mehr Paddler gibt, die auch ohne Wettkampfstress paddeln möchten. Zum anderen weckt die Entwicklung Tonis Pioniergeist. Er möchte herausfinden, was seine Kajaks auch im harten Wildwassereinsatz aushalten können. Prijons Wurzeln liegen zwar im Wettkampfsport, aber am Ende nimmt Toni Einfluss auf die ganze Breite des Paddelsports mit Wildwasserkajaks, Freestyle-Kajaks, Freizeit- und Tourenbooten. Die Innovationen beschränken sich nicht nur auf den Bootsbau: Rippenpaddel, ovalisierter Paddelschaft, Lenzschraube, Neoprenmanschette und Doppelkamin an Paddeljacken reklamiert er als eigene Entwicklungen. Prijons Erfolgsgeheimnis ist nicht nur sein handwerkliches Geschick und sein Gespür für gute Formen, es ist vor allem seine übersprudelnde Kreativität und sein Mut zu Neuerungen. Den braucht Toni Anfang der 80er Jahre. Der Kanusport steht vor seinem nächsten technologischen Umbruch und Prijon zählt zu den Vorreitern. GfK-Wildwasserkajaks halten den modernen Ansprüchen kaum mehr stand: Sie sind reparaturanfällig, pflegebedürftig, nicht robust genug für harten WW-Einsatz, und ihre Herstellung ist sehr zeitaufwändig. Verschiedene Hersteller tüfteln mit Kajaks aus Polyethylen. Prijon bekommt ein einmaliges Angebot. Die Surfbrett-Firma Hifly aus Weilheim möchte ihre gewaltige PE-Blasmaschine besser auslasten und bietet Toni die neue Technologie an. Für Prijon ein gewagter Schritt. Werden die neuen Kajaks die enormen Werkzeugkosten rechtfertigen? Die Produktionsform für das erste Modell, den Prijon Taifun, kostet 250.000 D-Mark. Ein erhebliche Investition, ohne Erfahrung mit dem neuen Kunststoff. Aber die Rechnung geht auf, der Taifun schlägt bei der Paddlergemeinde sofort ein. Das Kajak ist nahezu unzerstörbar und bei einer Länge von fast vier Metern mit 19 Kilo geradezu leicht. Er setzt neue Standards im extremen Wildwasser, ist aber auch bei gemäßigten Paddlern ein beliebtes Kajak.
Neue Maßstäbe
Auf den Taifun folgen die Modelle T-Slalom, T-Canyon und das erste Seekajak. An den HTP-Kajaks von Prijon müssen sich alle anderen Marken messen. Toni Prijon hatte seit jeher ein Auge und Gespür für neue Technologien. Der Wandel von Materialien und Modellen hat Prijon eher stärker gemacht. 1986 geht Hifly pleite. Toni Prijon kauft die Maschine aus der Insolvenzmasse, vergrößert sein Unternehmen weiter. Seine Boote bleiben stilbildend. Mit dem Hurricane, den er gemeinsam mit erfahrenen Spitzenpaddlern baut, läutet Prijon Anfang der 90er die Epoche der Freestyle-Kajaks ein. Gleichzeitig zieht sich Toni Prijon Senior langsam aus der Firma zurück. Stillstand kennt Toni senior allerdings nicht: »Ein kreativer Mensch geht nie in den Ruhestand, das wäre doch schade um sein Wissen!«
In seinem Heimatland Slowenien erschafft er aus einer alten Holzfabrik eine moderne Paddelfertigung. Nahe der Soča, im Koritnica-Tal, renoviert er einen alten Bauernhof und macht ihn zu seiner dritten Heimat. Regelmäßig kehrt er in die Werkstatt in Rosenheim zurück und legt Hand an neue Modelle. Das Auge für ästhetische Linien hat er auch im Alter nicht verloren. Die Generationen-Übergabe an seine Söhne verläuft reibungslos. Toni junior ist Kunststoff-Ingenieur und Kanuslalom-Weltmeister und vertritt seinen Vater in der Kajakproduktion nahtlos. Sohn Jürgen übernimmt den Einzelhandel und die Paddelfabrik. Die Stadt Rosenheim verleiht dem Senior 2006 den Wirtschaftspreis für sein Lebenswerk, ein Jahr später wird er in die International Whitewater Hall of Fame aufgenommen. Seine letzten Schreinerarbeiten sind drei Hochbeete aus Holz, weil er sich im Alter kaum noch bücken kann. Am 29. Dezember 2016 stirbt Anton Prijon senior im Kreis seiner Familie. »Mit Paddel bin ich geboren, und mit Paddel möcht‘ ich sterben«, war Tonis Wunsch eines würdevollen Todes. Die Bestattungsurne schreinert sein Sohn Jürgen aus altem Eschenholz, das er in der Paddelwerkstatt gefunden hat und das eigentlich zur Herstellung von Holzpaddeln vorgesehen war. Tonis Grab zieren zwei flache Natursteine. Sie stammen aus seiner alten Heimat, von den Ufern der Soča.
Zur Firma Prijon: www.prijon.com